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Gustave Moreau - Die Sphinx

von Frauke Maria Petry


Nach der griechischen Sage ist die Sphinx ein männerfressender Dämon in Gestalt eines Mischwesens aus Frau und geflügeltem Löwen. Sie spielt vor allem in der Geschichte Ödipus eine Rolle: Das Orakel Delphi prophezeit den Eltern Ödipus, dass der Junge seinen Vater ermorden und seine Mutter heiraten werde. Daraufhin geben sie ihn zur Adoption. Als der junge Herangewachsene auf Reisen einem Mann begegnet, erschlägt er ihn in einer Auseinandersetzung. Dieser war niemand anderes als sein Vater.

Ödipus kommt anschließend zur Stadt Theben, vor deren Toren auf einem Felsen die Sphinx wacht. Sie gibt allen Vorbeiziehenden ein Rätsel. Doch wer die Frage „Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig und am Abend dreifüßig – Was ist es?“ nicht löst, wird von ihr gefressen. Da Ödipus die Lösung in den Lebensphasen des Menschen erkennt, stürzt sich die Sphinx in den Abgrund. Zur Belohnung der Stadt-Befreiung erhält Ödipus die Hand der verwitweten Königin – seiner Mutter.

Die Sphinx ist schon seit Jahrhunderten Thema der Kunst, doch im 19. Jahrhundert wurde sie als mächtiger weiblicher Todesdämon mit der Sexualität der Frau in Verbindung gesetzt. Im Symbolismus wurde sie zum Emblem weiblicher Wollust und die Frau zur Botin des Unheils – nicht zuletzt zum Symbol der sexuellen Sünde. Nur Ödipus, ausgestattet mit starker und sicherer Männlichkeit, weiß die Bedrohung abzuwenden. Neben der Sprache der Zeichen als Spiegel der Seele und Träume, bestrebt die Kunstrichtung den Eigenwert der Farbe. Gustave Moreau wird als Vater des französischen Symbolismus angesehen. Auch er malt die Sphinx 1886 entsprechend der neuen Ikonographie :

Stolz und mächtig erhebt sich der Frauen-Dämon mit Krone und hoch aufgestellten Flügeln über die Felslandschaft. Ihr Blick schweift teilnahmslos in die Ferne. Ihre vollen, klassisch-schönen Brüste sind hell erleuchtet und betonen so die sexuelle Dominanz. Mit ihren Pranken krallt sie sich in den blutverschmierten Oberarm eines Jünglings. Während von Ödipus nichts zu sehen ist, wird das Schicksal seiner Vorgänger gerade zu pointiert. Denn wie Christis Leichnam windet sich der Körper des Mannes hell erleuchtet im Zentrum des Bildgeschehens – um ihn die leichenblassen Körperteile der Leidensgenossen entlang des Felsvorsprungs. Moreau malt die Sphinx einige Male, doch hier beruft er sich bei Bildkomposition und Gestaltung auf ein Gedicht von Heinrich Heine (1839). Darin wird die Liebe eines Mannes zu einer Frau in der künstlerischen Phantasie zur Gestalt der Sphinx. Der Dichter beschreibt das Gefühl als rätselhaft und atemberaubend. So versteht auch Moreau die Sphinx als eine Liebesbegegnung mit dem anderen Geschlecht. Der Hochmut der Sphinx entspricht einer maskierten Enttäuschung über die Unfähigkeit eines begehrenden Mannes, das Rätsel der Liebe zu einer Frau zu lösen.


Die neue Symbolsprache zur Sphinx in der Kunst des 19. Jahrhunderts ist nicht weiter verwunderlich. Denn zeitgleich beginnen die ersten Emanzipationsbestrebungen der Frauen. Sie erscheinen in ihren Forderungen nach Gleichbehandlung dominanter denn je, geht von ihnen doch eine Bedrohung auf die männliche Vormachtstellung aus. Die femme fatale (Unheil bringende Frau) wird daher in verschiedenen Frauengestalten zu einem beliebten Motiv in der europäischen Kunst und Literatur. Stellvertreterinnen sind oft sexuell befreite Frauen, die sich über die tradierten Vorstellungen der Rollenzuweisung hinwegsetzen. Paradoxerweise werden diese Figuren zu einer Spiegelfläche weiblicher Emanzipation und männlicher Gewalt- und Sexualphantasie. Moreau und seine Zeitgenossen verlagerten den Geschlechterkampf auf eine andere Ebene und interpretierten Sujets aus Mythos und Religion zeitgemäß neu.


Gustave Moreau - Die Sphinx

Öl auf Leinwand, 1886, Clemens-Sels-Museum in Neuss

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