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Katsushika Hokusai - Die große Welle vor Kanagawa

von Frauke Maria Petry


Wer in dem Instant-Messanging-Dienst „WhatsApp“ unter der Kategorie „Tiere und Natur“ nach einer Ausdrucksform für heftigen Seegang sucht, stößt auf ein Bildmotiv der klassischen Kunstgeschichte: Hokusais große Welle. Das Emoji entspricht in Form und Gestalt dem wahrscheinlich bekanntesten Holzschnitt der Welt.


In Katsushika Hokusais (1760–1849) „Die große Welle vor Kanagawa“ steigt eine riesige Meereswoge in verschiedenen Farbabstufungen von zartem Bläulich bis zu tiefem, fast schwarzem Blau auf. Die ausgreifenden, weißen Schaumkronen säumen die runden Formen und geben dem Seegang seine bedrohenden Konturen. In die dynamischen Flächen fügen sich drei Boote ein, welche der Kraft der Naturgewalt ausgeliefert zu sein scheinen. Die Perspektive entspricht einem weiteren Ruderboot, welches sich in den Wellen befinden muss. So wird der Betrachtende quasi ins Bildgeschehen integriert. Während die Meeresoberfläche bis ins Detail ausgearbeitet ist, lassen sich in den Schiffen abstrakte Köpfe und Körper ausmachen. Die Transportmittel und Personen entsprechen in der Farbgebung jedoch ihrer Umgebung, wodurch sie in der Gesamtkomposition erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Ebenso verhält es sich mit dem Berg im Hintergrund: ein Schnee bedeckter Gipfel bildet als statischer Fixpunkt den einzigen Ruhepol. Die Anhöhe des Festlands wird von den Wellen gerahmt, bleibt aber unscheinbar. Das gesamte Bild wird von der Dynamik der Titelgebenden Wassergewalt dominiert.

Wie der Titel verrät befinden sich die drei Boote vor der Küste Kanagawas und kommen von Edo. Es handelt sich dabei um traditionelle Fischerboote, welche 12 bis 15 Meter lang sind. Obwohl das Werk nach der mächtigen Welle benannt ist, steht in dessen Zentrum der Vulkan Fuji. Er wird in Japan als heiliger Ort verehrt und zeigt seine volle Gestalt aufgrund dichten Nebels nur selten. Nach fernöstlicher Philosophie verkörpert der Berg als Element der Erde „das Stillhalten“, welches in der Bildkomposition mit den Bewegungen des Wassers kontrastiert. Symbolisch stehen sich in dem Werk der ruhende Körper und die aufbrausende Seele gegenüber. In Anbetracht der Fischer scheint die Botschaft eine Lebensweisheit zu beinhalten: Nur durch Ruhe und gemeinschaftlichen Zusammenhalt kann eine aufbrausende Gefahr überwunden werden. Dabei ästhetisiert das Narrativ die Naturgewalt und stellt das Gefühl der Hoffnung in den Vordergrund.


Auch wenn das Einzelwerk eine besondere Interpretation aufweist, gehört der Farbholzschnitt zu der Bildserie „36 Ansichten des Fuji-san“. Der japanische Künstler hat den Berg über Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Ausführungen studiert. Jedes Blatt zeigt den höchsten Punkt Japans aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenartigen Umgebungen. „Die große Woge“ ist die bekannteste Komposition der Serie und verifiziert die künstlerische Hand, aus der der Druck stammt. Japanische Wissenschaftler konnten nachweisen, dass das Bild die Bewegung und Form einer realen Welle auf die hundertstel Sekunde genau wiedergibt. Es ist das Ergebnis des 30-jährigen Studiums des Holzschnittmeisters, in welchem er sein Auge auf die Perfektion eines Kameraobjektivs hin schulte. 

Dabei entspricht das Werk aber nicht rein der japanischen Malweise, sondern die Ausführung zeigt niederländische Einflüsse. Die Palette beinhaltet die Farben Indigo und Preußischblau, welches im 19. Jahrhundert nach Japan importiert wurde. So ist der Farbdruck ein Beleg für die gegenseitige Beeinflussung verschiedener Kulturen in dieser Zeit. Eine Vielzahl japanischer Grafiken wurde mit Öffnung der internationalen Handelswege 1859 in ganz Europa verbreitet und übte Einfluss auf die Arbeit von Künstlern wie Vincent Van Gogh, Claude Monet und James Abbott McNeill Whistler. Die Holzschnitte dienten dem Jugendstil als Inspirationsquelle, wobei Hokusais Welle ein beliebtes Motiv war und sich auch in anderen Kunstsparten wiederfindet. Das Gedicht „Der Berg“ (1906/07) von Rainer Maria Rilke und Claude Debussys Komposition „La Mer“ (1905) sind direkt auf den Holzschnitt zurückzuführen.


Katsushika Hokusai, dessen Namen übersetzt „der vom Malen Besessene“ bedeutet, fertigte das Bild im Alter von 70 Jahren an. Der Künstler gilt unter anderem als Vater des Mangas, da er den Terminus für eine Serie von Zeichnungen verwendete, die seinen Schüler*innen als Modelle dienten. Wie die japanischen Comics werden Holzschnitte in Japan nicht als Kunst, sondern als Werbedruck angesehen. Der Holzschnitt ist eine Drucktechnik, bei der für jeden Farbauftrag eine individuelle Holzplatte angefertigt wird. Für ein sogenanntes Ukiyo-E wie „Die große Welle vor Kanagawa“ sind bis zu zehn Druckvorlagen notwendig. Trotz des aufwendigen Fertigungsprozesses konnten die Arbeiten dadurch vervielfältigt und zu kleinen Preisen verbreitet werden. Als Souvenirs verkauft, blühte das Handwerk durch den Tourismus erneut auf. Die Zahl der existierenden Originalabzüge von Hokusais Welle ist nicht verzeichnet. Schätzungen gehen von 5000 bis 8000 Stück aus.


Relativ frühe und damit qualitativ hochwertige Abzüge finden sich in einigen der bekanntesten Museen der Welt wie dem Metropolitan Museum of Art in New York City, dem British Museum in London und dem Rijksmuseum in Amsterdam. In Deutschland kann ein Original im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg bewundert werden. „Die große Welle vor Kanagawa“ wird international als Repräsentationswerk japanischer Kultur gefeiert und ist längst als Kunstwerk anerkannt. Das Emoji jedoch ist weniger eine Stilisierung des weltberühmten Werks, als vielmehr eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Kommunikationszwecks von Holzschnitten. Das digitale Bildzeichen funktioniert gerade dadurch, dass das Original weltweit bekannt ist.



Katsushika Hokusai - Die große Welle vor Kanagawa

japanischer Holzschnitt, 1829–1833, 25 × 37 cm

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