von Alexandra Tuschka
Kein anderes Gemälde von Munch ist zu solcher Berühmtheit gelangt wie „der Schrei“. Obwohl Kritiker das Werk als stellvertretend für die Grundstimmung der Moderne ansehen, entstammt das Motiv einem höchst persönlichen Erlebnis: Der psychisch erkrankte Munch verarbeitete hier eine Panikattacke 1892. Er selbst beschreibt das Erlebnis lebendig in seinem Tagebuch: „Eines Abends machte ich mit zwei Freunden einen Spaziergang. (…) Die Sonne ging unter, und die Wolken färbten sich blutrot. Ich spürte einen Schrei, der durch die Natur widerhallte. Ich hatte das Gefühl, ich könnte diesen Schrei wirklich hören. Ich malte dieses Bild, malte die Wolken wie richtiges Blut. Es waren die Farben, die schrien.“ Die Landschaft obwohl sie stark vereinfacht wurde, kann als der Kristiania Ford von Ekeberg aus gesehen, identifiziert werden.
Den Eindruck seines subjektiven Erlebens wiederzugeben, gelingt Munch anschaulich. Die schemenhafte Figur im Vordergrund, deren Kopf einem Schädel gleicht, hat die Hände auf die Ohren gepresst. Die Darstellung gibt kaum Informationen über Alter und Geschlecht preis – sie wirkt nahezu archetypisch. Der Mund ist weit aufgerissen – geht der Schrei von der Natur auch auf den Menschen über?
Von oben drückt der rot-orange Himmel, der Fluss zieht sich wie eine Schliere durch den Bildmittelgrund. Der steil diagonal ins Bild kommende Steg verkürzt sich drastisch. Er zieht den Blick in die Tiefe zu zwei weiteren Figuren, die unbeteiligt von dem Schauspiel zu sein scheinen. Die Isolation des Protagonisten ist eindrücklich nachvollziehbar.
Bereits ein Jahr nach der Entstehung wurde das Werk in Berlin bei Munchs erster Einzelausstellung gezeigt. Munch verwendete das Motiv auch weiterhin auf Leinwänden und in Studien. Auf einer Version steht mit Bleistift: Konnte nur von einem Verrückten gemalt werden.
Edvard Munch - Der Schrei
Tempera und Pastellfarben auf Karton, 1893, 91 x 73,5 cm, Norwegische Nationalgalerie in Oslo