Motive, Symbole, Figuren
Was ist der "hortus conclusus"?
12Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.
13Deine Gewächse sind wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten, Zyperblumen mit Narden,
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16Stehe auf, Nordwind, und komm, Südwind, und wehe durch meinen Garten, daß seine Würzen triefen! Mein Freund komme in seinen Garten und esse von seinen edlen Früchten.
Heißt es im vierten Hohelied der Bibel, einem allegorischen Liebesgedicht. Auf diese Zeilen bezog sich die im 12. Jahrhundert aufkommende, theologische Interpretation, dass mit dem Garten Maria gemeint sein könnte und mit dem Eindringen in den Garten die unbefleckte Empfängnis. Das macht Jesus zu dem Eindringenden.
Maria und der Garten wurden gleichgesetzt und fanden dann auch in der bildenden Kunst des Mittelalters und der Renaissance Verbreitung. Der „hortus conclusus“ bezeichnet einen geschlossenen Garten. In einem solchen nimmt Maria meist mittig und präsent Platz. Dieser feste Terminus ist eng verwandt mit dem „Paradiesgärtlein“ und nimmt einen festen Platz in der Mariensymbolik ein. Bei letzterem kann sich Maria allerdings auch auf einer offenen Wiese befinden, inmitten von Blumen.
Dieses bekannte Werk Stefan Lochners zeigt so einen hortus conclusus. Der Goldgrund verrät zwei Dinge: einerseits fühlt sich das Gemälde der mittelalterlichen Formsprache verpflichtet und andererseits handelt es sich hier um ein höchst kostbares Thema — Mutter Maria mit dem Jesusknaben. Freilich trägt sie die Madonnenfarbe blau, denn diese war einer der teuersten Herstellungsstoffe im Mittelalter und daher mit der Mutter Gottes verbunden. Zudem symbolisiert die Farbe den Himmel. Maria ist hier durch ihren Schmuck als Herrscherin ausgezeichnet; über ihrem Kopf entsendet Gottvater den Heiligen Geist in Form einer Taube. Die gesamte Szene ist noch von Engeln belebt. Vier von ihnen, unten, musizieren; andere wiederum greifen nach Früchten oder Blüten. Die Ranken, an denen sich rote Rosen befinden, geben dem Gemälde seinen Namen. Zwei Engel im oberen Bildrand ziehen die Vorhänge beiseite und präsentieren uns einen Blick, der nicht jedem Betrachter zuteil wird. Maria schaut bedächtig zum Boden. Ihr Kleid wirft, typisch für diesen Typus, in einer Dreieckskomposition weiche Falten. Lochner arbeitet hier mit intensiven Schattierungsabstufungen. Interessanterweise tupfte er dafür die Farbe dicht nebeneinander und erzielte so eine stärkere Dichte und Tiefe bzw. einen dunkleren Effekt. Das war ein Novum und wurde nur bei besonders bildwürdigen Motiven vom Künstler eingesetzt.
In diesem Werk ist fast alles, was man sieht, bedeutungsschwanger: im Heiligenschein der Protagonistin werden Aspekte der zeitgenössischen Darstellungen von Mondzyklen aufgegriffen. Und in der Brosche werden Einhorn und Jungfrau in ähnlicher Verbundenheit gezeigt, wie Mutter und Kind. Das Einhorn konnte nur von einer reinen Jungfrau gefangen werden. Jesus, der eine Frucht entgegennimmt nimmt im übertragenen Sinne auch sein Schicksal mit dieser Geste an. Da es sich hier um einen Apfel handelt, verweist dies freilich auch auf den Sündenfall und stellt Jesus als Nachkommen Adams dar, der die Erbsünde, die seit diesem Tage auf den Menschen lastet, endlich aufzulösen vermag.
Manchmal sehen wir die Hinzufügung anderer Personen. Das können musizierende Engel sein, die das Bildthema untermauern und die Harmonie der Szene unterstreichen. Aber oft sind auch Heiligen- oder Stifterfiguren hinzugefügt. In diesem Werk sehen wir gar beides. Die Stifter flankieren das Bild, während drei weitere Damen sich um Maria versammelt haben. Sie sind an ihren Attributen erkennbar: die heilige Katharina mit dem Rad, mit welchem sie gefoltert wurde; die heilige Barbara, die in einen Turm gesperrt wurde, den wir hier sehen, und Maria Magdalena mit dem Salbgefäß. Sie trägt als einzige der vier keinen Heiligenschein, und bekam erst in jüngster Zeit eine Aufwertung ihrer Rolle durch Papst Franziskus
Auch bei anderen Frauenfiguren wurde die Symbolik des hortus conclusus aufgegriffen, so bspw. bei der Geschichte der Susanna im Bade, einer Frau, die von zwei lüsternen Alten beim Baden beobachtet wird. Sie selbst ist eine Gottesfürchtige Gläubige, die sich von den Drohungen der Männer nicht zu sexuellen Handlungen Hier entspricht der geschlossene Garten einerseits ihrer Reinheit und Keuschheit, andererseits spricht das Eindringen der Männer in diesen von einer besonders intensiven Bedrohung.